Ein Jahr wie aus dem Bilderbuch (?)

Die Natur schafft zuweilen scharfe Kontraste: Nach dem nassen und kühlen Vegetationsjahr 2014 liess sie 2015 in fast allen Belangen das Gegenteil folgen. Das Wetter war überall in der Schweiz vorwiegend trocken und sehr warm. Anfang Juli ging eine Hitzewelle über das Land, an deren Ende das Thermometer in Genf auf den bisherigen Rekordwert nördlich der Alpen von 39,7 Grad Celsius stieg. Doch nicht nur der Juli war sonnig: In Locarno beispielsweise schien die Sonne während der Monate April bis September 155 Stunden länger als im Vorjahr.

 

Das warme Wetter beschleunigte die Vegetation: In Graubünden notierte man die Zeitpunkte für den Beginn von Blüte und Farbumschlag rund drei Wochen früher als noch etwa in den 1980er Jahren, und im Wallis dauerte die Lese nur zwei Wochen statt wie üblich vier oder sechs, denn die Rebsorten wurden in besonders kurzen Abständen zueinander reif. Allenthalben konnten in den Trauben hohe Zuckerwerte gemessen werden: So wurden im Aargau beim Blauburgunder im kantonsweiten Durchschnitt 104 Grad Oechsle erreicht, und in Graubünden erlangte selbst der normalerweise mit Oechslegraden geizende Completer ein kantonsweites Mittel von 97 Grad Oechsle.

 

Die Kehrseite des schönen Wetters

 

Doch das schöne Wetter hatte auch seine Kehrseite: In Lugano beispielsweise fiel 64 Tage lang kein Tropfen Regen – die zweitlängste Trockenperiode seit 1959. In Jenins mass man während der Monate Juli und August nur etwas mehr als ein Drittel des üblichen Regens. Auch in den anderen Landesteilen blieben die Niederschläge um etwa 15 bis 20 Prozent unter dem langjährigen Mittel. Trockenheit ist ein zweischneidiges Schwert: Einerseits ist der Rebstock eine Pflanze, die grundsätzlich gut an trockene Bedingungen angepasst ist. Für die Gesundheit der Trauben ist trockene Witterung sogar ausgesprochen positiv, denn Pilzkrankheiten benötigen Feuchtigkeit, um sich zu entfalten. Andererseits kann im Übermass auftretender Trockenstress dazu führen, dass die Reben in einen Notmodus wechseln, in welchem sie ihren Stoffwechsel, unter anderem auch die Bildung von Aromastoffen, auf ein Minimum reduzieren.

In der Region von Genf – hier Reben bei Satigny, der grössten Weinbaugemeinde der Schweiz – kletterte das Thermometer im Hitzesommer 2015 besonders hoch.

 

Diese Janusgesichtigkeit teilen auch manche Weine des Jahrgangs 2015: Die gelungenen haben die besten Elemente des sonnigen Wetters eingefangen und in Weine mit kräftigem Ausdruck verwandelt. Doch kein Witterungsphänomen ist ausschliesslich positiv, auch nicht Wärme und Trockenheit: Denn letztere führt zu dicken Beerenschalen und zu grossen Mengen von Gerbstoff in den dunklen Trauben. Bei der Maischegärung der Rotweine kann es unter solchen Umständen schwierig sein, die aus den Beerenschalen ausgelösten Gerbstoffmengen unter Kontrolle zu halten. So stellt sich bei einigen roten 2015ern auch nach zehn Jahren der Flaschenreife noch die Frage: Sind sie immer noch zu jung, oder wird dieses massive Tannin vielleicht auch nach noch längerer Flaschenreifung immer rau und dominant bleiben?

 

Besonders bei manchen Merlots aus dem Tessin stellt sich diese Frage – und auch einige Pinots noirs aus Graubünden erscheinen in ihrer Stoffigkeit an der Grenze dessen zu liegen, was die Sorte in stilistischer Hinsicht zu tragen vermag. Beim Pinot noir zeigten sich häufig auch die Nebenwirkungen der frühen Lese: Ausgedehnt lange Reifeperioden führen zu hoher aromatischer Komplexität. Ein schnelles Ausreifen der Trauben unter warmen Bedingungen verringert hingegen die Vielschichtigkeit und lässt pflaumige und kompottartige Noten hervortreten.

 

Fazit

 

Prinzipiell ist 2015 ein sehr spannendes Weinjahr, in vielen Fällen lohnt es sich, die Weine weiter im Keller zu behalten. Für die (in der Regel spät reifenden) Lokalsorten beispielsweise war es fast ohne Abstriche ein sehr gutes Jahr. Zu den Gewinnern des Jahrgangs gehören zudem eine altbekannte und eine eingewanderte Sorte: Der so oft unterschätzte Chasselas hat in 2015 einmal mehr unter Beweis gestellt, wie anpassungsfähig er ist. Die Weine haben etwas mehr Fülle als in anderen Jahren, ohne jedoch darüber plump zu werden. Vor allem die an den Ufern des Genfersees gewachsenen Crus haben sich eine schöne Eleganz bewahrt. Brilliant sind überdies die Syrah-Weine ausgefallen. Im Jahr 2015 fanden die Reben im Wallis Bedingungen vor, wie sie sonst weiter südlich im Rhônetal herrschen: mit dem Resultat dichter, fleischiger und wunderbar würziger Weine.

 

Ulrich Sautter
Degustationsleiter Swiss Wine Vintage Award